Carpe Diem!

 
 


Pflücke die Stunde, wär sie noch so blass,
Ein falbes Moos, vom Dunst des Moores nass
Ein farblos Blümchen flatternd auf der Heide,
Ach einst von Allem träumt die Seele süß
Von Allem was, ihr eigen, sie verließ
Und mancher Seufzer gilt entflohnem Leide.

In Alles senkt sie Blutes Tropfen ein
Legt Perlen aus dem heilig tiefsten Schrein,
Bewusstlos, selbst in Grauverhängte Stunden
Steigt oft ein unklar Sehnen dir empor
Du schaust vielleicht wie durch Gewölkes Flor,
Nach Tagen, längst vergessen doch empfunden,

Wer, der an seine Kinderzeit gedenkt
Als die Vokabeln ihn in Not versenkt
Wer möchte nicht ein Kind sein und sich grauen,
Ja der Gefangne, der die Wand beschrieb
Fühlt er nach Jahren Glückes nicht den Trieb
Die alten Sprüche einmal noch zu schauen?

Wohl gibt es Stunden die so ganz verhasst
Dass dem Gedächtnis eine Zentnerlast,
Wir ihren Schatten abzuwälzen sorgen,
Doch selten schickt sie uns des Himmels Zorn
Und meistens ist darin ein giftiger Dorn
Der Moderwurm geheimer Schuld verborgen.

Drum wer noch eines Blickes nach Oben wert
Der nehme was an Liebem ihm beschert,
Die stolze wie die Stund im schlichten Kleide
Der schlürfe jeden stillen Tropfen Tau
Und spiegelt drin sich nicht des Äthers Blau
So lispelt drüber wohl die fromme Weide.

Freu dich an deines Säuglings Lächeln freu
Dich an des Jauchzens ungewissem Schrei
Mit dem er streckt die lebensfrohen Glieder
Wär zehnmal stolzer auch was dich durchweht
Wenn er vor dir dareinst, ein Jüngling, steht
Dein lächelnd Kindlein gibt er dir nicht wieder.

Freu dich des Freundes eh zum Greis er reift
Erfahrung ihm die kühne Stirn gestreift
Von seiner Scheitel Grabesblumen wehen,
Freu dich des Greises, schau ihm lange nach
In Kurzem gäbst vielleicht du manchen Tag
Um einmal noch das graue Haupt zu sehen

O wer nur ernst und fest die Stunde greift
Den Kranz ihr auch von bleicher Locke streift
Dem kann sie nicht entgehn, die reichste Beute
Doch wir, wir Thoren drängen sie zurück
Vor uns die Hoffnung – hinter uns das Glück
Und unsre Morgen morden unsre Heute.

(Annette von Droste-Hülshoff)
 

 

Zur Verfügung gestellt von:

lady44149 (Lycos Chat)

 

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